Schwerwettersegeln – Sturmtaktiken

(Eine Literaturrecherche unter Berücksichtigung von zahlreichen Erfahrungsberichten der Zeitschriften Yachting World, Cruising World, Yachting Monthly und Practical Boat Owner der Jahre 1993 – 2007) 

 

Zum Schwerwettersegeln gibt es viele Bücher insbesondere im anglo-amerikanischen Sprachraum (siehe Literaturliste). Dem Thema Sturmtaktik im Besonderen widmen sich u.a. „Surviving the Storm“ von Steve und Linda Dashew, „Storm Tactic Handbook“ von Larry und Lin Pardey, „Heavy Weather Sailing“ von Adlard Coles, “Handling Storms at Sea“ von Hal Roth und „Drag Device Data Base“ von Victor Shane. Wertvolle Hinweise können aber auch dem Buch von C.A. Marchaj „Seetüchtigkeit - Der vergessene Faktor“ entnommen werden.       

 

Erkenntnis: es gibt keine einzige und wahre Sturmtaktik, sondern verschiedene Strategien, die abhängig sind vom Schiffstyp (Größe, Lateralplan, Stabilität, Ein- oder Mehrrumpfboot), dem Rigg (u.a. auch der Möglichkeit verschiedene Sturmsegel zu setzen), der Crew (Anzahl, Erfahrung, psychische Verfassung, Seekrankheit, Verletzungen), dem Seegebiet (Raum zum Treiben, der Wassertiefe, Leegerwallküste, Strömung), dem Reiseziel, dem Wetter (Zeitdauer des Sturms, Seegangsverhältnisse, zu erwartende Zugrichtung des Tiefdruckgebietes) und der Unversehrtheit von bzw. Schaden an Rumpf und Rigg des Schiffes. 

 

Es gibt den „modernen“ Segler mit großem Schiff (Steve Dashew) und den „Traditionalisten“ mit kleinem Schiff, Langkieler, sogar ohne Maschine wie Larry Pardey. Und so sind die Erfahrungen und Empfehlungen, wie man am besten einen Sturm überstehen kann, völlig unterschiedlich. Während der erstere das Potential eines schnellen Schiffes in Verbindung mit aktuellen meteorologischen Daten nutzen kann, um einem Tief auszuweichen, übersteht der andere nachweislich Orkane unter beigedrehtem Liegen vor einem Treibanker. 

 

In „Surviving the Storm“ wird jede erdenkliche Schlechtwettersituation beschrieben und zeichnerisch dargestellt. Ein umfassenderes Buch zum Thema gibt es nicht. Untermauert werden die Empfehlungen durch zahlreiche Erfahrungsberichte. 

 

Das so genannte „Beidrehen“ („heaving to“) mit nach Lee festgelaschtem Ruder ist eine Möglichkeit, die bei einem Langkieler besser gelingt als bei modernen Kurzkielern. Aber auch der „moderne“ Langkieler mit beschnittenem Vorfuss neigt dazu, dass das Vorschiff immer wieder nach Lee weggedrückt wird, so dass ein reines Beidrehen (Bug im Winkel von 45 Grad zur anlaufenden See) ohne Segel manchmal nicht zufriedenstellend gelingt. Um die Tendenz zum Anluven zu unterstützen wäre ein Trysegel sinnvoll oder auch nur ein sogenanntes „riding sail“ (auch „spitfire jib“ genannt), d.h. ein kleines 1 oder 2 qm großes Dreieck mit Schothorn, welches am Achterstag geriggt wird. 

 

Wird zu irgendeinem Zeitpunkt eine Sturmfock gesetzt, dann ist es auf jeden Fall besser, diese an einem Kutterstag zu setzen, damit der Druckpunkt des Segels möglichst tief bleibt und „der gesamte Segelschwerpunkt mehr zur Bootsmitte und damit zum Lateralschwerpunkt hin rückt“ (Dick Kenny, Yachtsegel). 

 

Von großer Bedeutung ist, in welchem Winkel die Seen genommen werden. Solange diese nicht brechen, ist es egal, auf welchem Bug man beigedreht zu liegen kommt. Bei brechenden Seen, sollte der Bug möglichst im 45-Grad-Winkel zu den anlaufenden Wellen zeigen. Und da Wind und Wellenrichtung nicht übereinstimmen, ist ein Bug eindeutig besser und sicherer als ein anderer. Dieses gilt es zu beobachten und das Schiff entsprechend zu positionieren, insbesondere dann, wenn es nach einem Frontendurchzug zu einer drastischen Windrichtungsänderung  gekommen ist. Auch ist es eine Überlegung wert, ob es in manchen Situationen hilfreich sein kann, zusätzlich die Maschine einzusetzen, soweit die Schräglage des Schiffes dieses zulässt. Um bei einem herannahenden Tief von einer Leegerwallküste wegzukommen, sollte man sich nicht scheuen, durch Maschinenkraft zusätzliche Meilen zu schaffen, um in der verbleibenden Zeit möglichst viel Seeraum zu gewinnen. 

 

Die Methode, dass ein Schiff sich selbst überlassen wird, in dem es quer zur See liegend nach Lee wegtreibt, d.h. ein Beiliegen („lying ahull“), wird allgemein als gefährlich eingeschätzt. Schon eine brechende See von einem Drittel der Schiffslänge kann ein Boot über den 90 Grad Winkel hinaus auf die Seite legen (sog. „B1 - Knockdown“ nach dem Fastnet Report 1979). In Bezug auf die Stabilitätskurve eines modernen Cruiser/Racer Bootstyps kann das bedeuten, dass ein bisschen mehr Krängung über diesen Winkel hinaus zu einem kompletten Durchkentern führen kann („B2-Knockdown“). Zum Vergleich: ein Halbtonner verliert sein aufrichtendes Moment bei 117°, die Contessa 32 erst bei 156° und eine Nicholson 32 bei 165°! 

 

Die Tatsache, dass sich selbst überlassene Schiffe noch nach Monaten, teilweise mit offenen Luken treibend, irgendwo gefunden wurden oder gestrandet waren, spricht nicht für diese Methode, sondern untermauert die Tatsache, dass Schiffe oft zu früh aufgegeben und die Crew unter größten Gefahren, auch für die Retter, abgeborgen wurde. Aber in Überlebenssituationen kommt die psychische Verfassung und die Erfahrung der Mannschaft und des Schiffsführers mit ins Spiel. Wenn die Angst zu sterben nicht mehr zu kontrollieren ist, dann führt der Ruf nach Hilfe zu einer Rettungsaktion, die dann auch mit allen Konsequenzen durchgeführt wird. Es bestätigt sich in vielen Fällen, dass die Schiffe „stärker“ sind als ihre Besatzungen. 

 

Das Beidrehen ist eine gute Möglichkeit, der Mannschaft Ruhe und Erholung zukommen zu lassen. Wann immer es möglich ist,  sollte ein Ausguck an Deck bleiben. 

 

In ihrem „Storm Tactic Handbook“ schreiben die Pardeys über das „beigedreht Liegen“ vor einem Treibanker („sea anchor“). Während es im Deutschen nur den Begriff des Treibankers gibt, unterscheidet man im anglo-amerikanischen Sprachraum zwischen einem fallschirmartigen „Seeanker“, der über den Bug ausgebracht wird und einem wesentlich kleineren, konisch zulaufenden „drogue“, der zum Verringern der Fahrt über das Heck ins Wasser gelassen wird. 

 

Es geht also bei ihrer Methode um das Ausbringen eines „Seeankers“ über den Bug, wobei auf die „Ankerleine“, mit Hilfe eines Klappblocks, eine Spring aufgesetzt und diese über eine Umlenkung am Heck geführt wird und die bewirkt, dass das Schiff in einem Winkel von 50 Grad zur See zu liegen kommt, ohne Fahrt voraus zu machen. Die dadurch entstehende Verwirbelung der See nach Luv („slick“) sorgt dafür, dass die Seen vor und nicht beim Schiff  brechen. Bei dem Schiff der Pardeys handelt es sich jedoch um einen Langkieler und sie diskutieren jede kritische und zweifelnde Frage an dieser Methode bis ins Detail. 

 

Allerdings bedarf es von Seiten des Bootes erheblicher Vorarbeiten, was die Größe und Stabilität der Beschläge angeht, um die enormen Belastungen aufnehmen zu können. Die Länge der Leine soll wie bei einer Schleppverbindung abhängig von der Wellenlänge sein, damit sich zu irgendeinem Zeitpunkt des Sturms Schiff und Treibanker gleichzeitig auf dem Wellenkamm oder im Wellental befinden. Dies bedeutet, dass man schon die Möglichkeit haben sollte, 100 m oder mehr Leine ausbringen zu können.  

 

 Abschließend wird bemerkt, dass es zumindest eine zusätzliche Option ist, wenn das Schiff nach Mastbruch auf eine Küste zutreibt und man die Abdrift so gering wie möglich halten muss. Außerdem stabilisiert ein derartiger „Treibanker“ das Schiff nach Verlust des Riggs, hält den Bug in den Wind und erleichtert Reparaturarbeiten bei angenehmeren Schiffsbewegungen. 

 

Eine weitere Möglichkeit ist das Ablaufen vor dem Sturm („running off“). Dieses gelingt bei modernen Konstruktionen und hohen Geschwindigkeiten häufig besser, solange die Crew konditionsmäßig dazu in der Lage ist und das Schiff nicht aus dem Ruder läuft. Allerdings verliert das Ruder von modernen Yachten bei Seegang mit hohen achterlichen Wellen jedoch eher an Wirkung (Marchaj), so dass ein „aus dem Ruder laufen“ oft unvermeidlich ist. Um einen Sturm auf diese Weise zu überstehen muss jedoch genügend Seeraum vorhanden sein und man sollte auch berücksichtigen, dass man sich mit der Zugbahn des Tiefs bewegt und daher länger mit schlechtem Wetter zu tun hat. 

 

Dennoch kann es nötig werden, die Schiffsgeschwindigkeit zu bremsen, um einen Überschlag zu verhindern (Robin Knox-Johnston mit „Enza“ nahe Ushant im Rahmen der Jules Verne Trophy 1994, wo Gewichte achteraus geschleppt wurden, um den Katamaran zu kontrollieren). Als moderne Hilfsmittel kommen hierfür sogenannte „drogues“ in Frage (eine Sonderform ist der „Jordan Series Drogue“, bei dem zahlreiche kleine Kegel aus Segeltuch in die Leine eingespleisst sind). 

 

Überhaupt erleben die „Treibanker“ in der englischsprachigen Segelliteratur eine Renaissance, und es gibt zahlreiche positive Erfahrungsberichte, u.a. auch zum Nachschleppen eines „drogues“ bei Ruderverlust, mit der Möglichkeit, das Schiff über eine Leinenführung als „Hahnepot“ steuerfähig zu halten (die erste mir bekannte Schilderung hierzu stammt von Johannes Voss aus dem Jahre 1902 mit seinem Boot „Tilikum“ in „Die abenteuerlichen Reisen des Kapitän Voss“). 

 

Aber auch die U.S. Coast Guard widmet sich in eigenen Untersuchungen diesem Thema, zu finden im Internet unter  http://seriesdrogue.com/vs/ (Series Drogue, ocean survival). 

 

Legendär ist die Beschreibung von Moitessier („Der verschenkte Sieg“), der seine „Joshua“ anfangs mit achteraus geschleppten Leinen versah und mit dieser „Bremse“ irgendwann kein gutes Gefühl mehr hatte. Nach Kappen der Leinen, lief das Schiff wie befreit, und er nahm die von achtern auflaufenden Seen in einem Winkel von 20 Grad. Marchaj diskutiert dieses Phänomen des möglichen Querschlagens eines Schiffes mit der Wellensteilheit bei einer vorgegebenen Wellenlänge und kommt zu dem Schluss: „dass eine Mannschaft während eines einzigen Sturms möglicherweise beide Strategien anwenden muss, um zu überleben; als erste ein Verlangsamen der Fahrt durch Nachschleppen von Leinen zu Beginn eines Sturms, als zweite ein Ablaufen mit Fahrt zu einem späteren Zeitpunkt, wenn sich das Wellensystem genügend entwickelt hat“. 

 

Interessant zu lesen ist, wie Hal Roth in „Handling Storms at Sea“ 5 nacheinander „abzuarbeitende“ Schritte empfiehlt, wenn der Wind immer mehr zunimmt: 1. Großsegel so weit wegreffen wie möglich und eine Sturmfock setzen – 2. beidrehen („heave-to“) – 3. beiliegen („lie a-hull“ , aber nur solange die Seen nicht brechen!) – 4. vorm Wind ablaufen („run off“) – 5. entweder Fallschirmtreibanker („parachute sea anchor“) über den Bug oder Treibanker („drogue“) über das Heck ausbringen. 

 

 Neben der eigentlichen Strategie, was den Kurs des Schiffes im Sturm und die Segelführung angeht, so spielt die Sicherheit und körperliche Unversehrtheit der Crew eine genauso große Rolle. Viele Erfahrungsberichte beschreiben eindrucksvoll, wie Gegenstände und Personen beim Durchkentern durch den Raum flogen und sich Crewmitglieder schwer verletzten.  So kann man bei jedem Schiff erheblich nachbessern, was das Sichern und seefeste Verstauen von beweglichen Teilen angeht. Es geht also darum, ein Schiff „180-Grad-sicher“ zu machen. Nicht nur, dass die Batterien entsprechend gelascht sind, sondern auch Werkzeug, Proviant, Kocher, Bodenbretter, Schapps, Schubladen usw. 

 

Ein Besatzungsmitglied muss auch nicht schwer verletzt sein, eine gebrochene Hand genügt schon, und derjenige ist nicht mehr einsatzfähig. Also müssen auch die Personen unter Deck Möglichkeiten haben, sich zu sichern (z.B. Gurtsysteme, Leesegel, Handläufer). Wachgänger an Deck sind ertrunken, weil sie sich bei aufgeblasener Weste und durchgekentertem Schiff, was sich nur schwer oder gar nicht mehr aufrichtete, nicht mehr aus dem Lifegurt befreien konnten (hier gibt es Lifebelts mit Schnappschäkel, die sich unter Last öffnen lassen und den Gurt mit dem D-Ring der Weste verbinden, z.B. von Wichard). 

 

Und es gibt viele Kopfverletzungen auch mit Todesfolge, die durch Tragen eines Schutzhelms hätten verhindert werden können. Man sollte sich vielleicht doch mit dem Gedanken anfreunden, zumindest bei schlechtem Wetter und vor allem bei Arbeiten auf dem Vorschiff z.B. einen Kajakhelm zu tragen. 

 

Erfahrungsberichte anderer Segler helfen, sich auch mental auf einen Sturm und das mögliche Szenario einer Überlebenssituation vorzubereiten. Die Literaturliste im Anhang kann hierbei behilflich sein. Die eigentlichen Vorbereitungen auf schlechtes Wetter beginnen jedoch im Hafen, und das umfangreichste Werk hierzu ist die „Offshore Cruising Encyclopedia“ von Steve Dashew.  

 

Anmerkung 

 

Auch wenn es zahlreiche Erfahrungsberichte zu unterschiedlichen Strategien gibt, wie man am Besten einen Sturm überstehen könnte, so sollte sich jeder, egal welchen Schiffstyp man segelt, mit der Methode des Beidrehens („heaving to“) beschäftigen (ausführlich wird hierzu in der 3. Auflage des „Storm Tactic Handbook“ von Lin und Larry Pardey Stellung genommen). Sie haben hierzu zahlreiche Interviews mit anderen Seglern geführt u.a. mit  Peter Blake, der als „Fahrtensegler“ mit Familie diese Methode allen anderen Strategien vorziehen würde. 

 

Das Problem des Ablaufens vor Wind und See ist eben, dass dies nur mit einer ausreichend starken Crew gelingen kann, die nicht erschöpft ist, damit keine Steuerfehler auftreten. Ein Augenblick der Unachtsamkeit kann zum Querschlagen, Über-Kopf-Gehen („pitchpoling“) und Durchkentern führen. Um dieses zu verhindern sollte ein „drogue“ (oder was auch immer sich an Bord befindet, um das Schiff zu bremsen: z.B. auch ein Anker mit Leine und Kette), am besten, nach Meinung von Hal Roth, ein „Jordan Series Drogue“ nachgeschleppt werden (siehe auch unter: www.acesails.com).  

 

Dieses passiert nicht/soll nicht passieren, wenn man sein Boot richtig beigedreht hinlegt, d.h. das Schiff muss in einem Winkel von 40 – 50 Grad zur See liegen und darf keine Fahrt voraus machen! Indem es nach Lee wegtreibt, erzeugt der Kiel eine Verwirbelung nach Luv („slick“) und in diesem Bereich brechen die Seen schon vorher. Dieses Phänomen existiert und wurde von vielen Seglern  beobachtet und bestätigt. Einen modernen Kurzkieler in dieser Position bei schlechtem Wetter so zu halten, bedeutet viel mit den Sturmsegeln (z.B. Trysegel) 

zu experimentieren. Es ist harte Arbeit und gelingt oft nur schwer, aber soll möglich sein. Man kann auch mit „Bordmitteln“ einen Treibanker konstruieren (z.B. die „Enden“ einer Sturmfock zusammenführen und über einen Wirbelschäkel mit der Ankerleine verbinden). 

 

Auch wenn man an das Beidrehen nicht recht glauben mag, so möge man sich noch einmal die Situation vor Augen halten, wo ein noch anhaltender Sturm das Schiff unaufhaltsam bei nicht mehr ausreichendem Seeraum auf eine Küste zutreibt. Hier kann man nur versuchen, die Driftgeschwindigkeit nach Lee maximal zu verringern, eben durch Beidrehen und manchmal auch vor einem Treibanker („sea anchor/para anchor“) liegend.                                                                       Und auch für den Ozeansegler gibt es eine Situation, die nie außer Acht gelassen werden darf: wenn man sich nämlich im vorderen Quadranten des sogenannten „gefährlichen Halbkreises“ eines tropischen Sturms befindet, dann führt einen der Kurs vor Wind und See unweigerlich aufs Zentrum zu, mit immer höheren Seen und Windstärken (zitiert nach Nathaniel Bowditch: „The American Practical Navigator“ – Chapter 35: Tropical Cyclones). 

 

 

Dr. med. Jens Kohfahl, Cuxhaven